25. Spieltag: FC St. Pauli - Hertha BSC

Ich spaziere durch Berlin-Kreuzberg. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht mehr. Gleich beginnt doch das Spiel gegen Hertha, einen Club, den ich traditionell so gar nicht mag. Gernegroß ist eine Vokabel, die ich gern mit dem Hauptstadtclub verbinde. Was also mache ich hier? Und wo kann ich das Spiel sehen? Nach dem fürchterlichen Kick in Gelsenkirchen braucht es unbedingt einen Heimspielsieg, um den Abstand zu halten und vor allem auch, um wieder in die spielerische Spur zu finden.

Berlin, Berlin, ich fahr nicht nach Berlin! denke ich noch, da komme ich an einer Eckkneipe vorbei. Die Tür ist geschlossen, die Fenster verrammelt. „Bei Herta“, die verblichenen Buchstaben auf dem Schild über der Tür sind nur noch schwach zu erkennen. „TEFKABH“ wurde erst darübergepinselt und später ungelenk durchgestrichen. Ich versuche die Tür zu öffnen und tatsächlich, sie öffnet sich. Ich stecke meinen Kopf hinein. Im schummrigen Licht sehe ich eine imposante Gestalt hinter dem Tresen. Entschuldigung, zeigt ihr Pauli gegen Hertha…?
„HERTHA?“ schreit es aus dem Raum zurück, „DU BIST VIELLEICHT HART ABER ICH BIN HERTA!“ Erschrocken ziehe ich den Kopf ein und werfe die Tür zu.
Woher kommt mir das nur so bekannt vor? Ich schaue auf die Uhr; es ist Anpfiff. Ich muss schnell irgendeine Kneipe mit Fußballübertragung finden.

„Zum angewachsenen Beutel“ steht über einem dunklen Schuppen. Ein abgerissenes Plakat verspricht Live-Musik von „MUK & Die Gesellschaft“. Daneben steht: Bei uns live: „Fußball ist einfach: Rein das Ding – und ab nach Hause. (Aristoteles)" Das Zitat ist aber doch falsch zugeordnet, denke ich, aber das Spiel schon, also werfe ich noch schnell einen Blick durch’s Fenster. Neon-Schilder versprechen Billig-Bier und Biobrause. Ok, passt schon.
Ich trete ein. Am Tresen begrüßt mich ein Känguru und fragt mich unfreundlich, ob ich Schnapspralinen bei mir habe. Ich verziehe das Gesicht. Solch widerliches Zeug habe ich nicht; aber Durst und Hunger. Ich bekomme eine Dose mit der Aufschrift „Billig-Bier“. Ich zucke mit den Achseln. Habt ihr was zu essen? frage ich. Wortlos zeigt das Känguru auf eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide „EIERKUCHEN“ steht. OK, einen bitte! will ich sagen. Da schaut der Koch, ein blonder Kerl mit sehr breiten Schultern, aus der Küche und brüllt „Eier, wir brauchen Eier!“ Äh, doch keinen Hunger, murmle ich. Moment mal: Was wieso überhaupt ein Känguru?

Zeigt ihr Fußball? Das Känguru deutet stumm mit seiner Pfote auf einen hinteren, etwas abgetrennten Teil des Gastraumes. „Des is da Philosophenclub“, jovialt mich ein älterer Typ an, dessen Gesichtsbehaarung offenbar an einen Ferrari fahren Privatdetektiv aus den 80ern erinnern will. Vor seiner Nase stehen gleich drei Weizenbiere. Schauen Sie nicht? frage ich unnötig höflich. „Na, i schau net, i red bloß drüber.“ Ich weiß, was ihr jetzt denkt, und ihr habt recht!
Ich quetsche mich in den Hinterraum. Um den einzigen großen Tisch haben sich etliche Leute versammelt, die gebannt auf den großen Bildschirm schauen.
Das Spiel läuft schon. Es gibt Freistoß von der Strafraumgrenze für Berlin.
Warum stellt ihr keine Mauer? denke ich. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ belehrt mich ein großer dunkelhaariger Typ, der mir seltsam bekannt vorkommt. Das ist doch Vasilj! Wieso spielt der nicht? Berlin schießt den Freistoß ohne Mauer über das verwaiste Tor. Ich atme tief durch und suche einen freien Platz. Um den Tisch haben sich lauter mir bekannt vorkommende Gesichter versammelt. Ich runzle die Stirn, aber frage, ob ich mich dazusetzen darf. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ antwortet Philipp Treu.
„Stell dich nicht so an!“, belehrt ihn Mario Basler, während er sich drei Marlboros gleichzeitig anzündet und kunstvoll auf einem Weizenglas mit Whisky-Cola drapiert, „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ Mir steht der Mund offen!
„Frage nicht, was dein Club für dich tun kann, frage, was du für deinen Club tun kannst!“ doziert zwei Plätze weiter der göttliche Oke und blickt die auf seinem Schoß sitzende Sandra S. an. „Ich schau dir in die Augen, Kleines“ säuselt er.
„Das hier ist Fußball, das hier sind Dramen!“ will Shakespeare beide an das Spiel erinnern. Vergebens.
„Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze“ säuselt die Schwedler dem Oke, der jetzt auf ihrem Schoß sitzt, ins Öhrchen.
So bekommen beide gar nicht mit, wie ein Spruchband eingeblendet wird:
„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden. Ultra Sankt Pauli“ Also, das kann doch nun wirklich nicht stimmen, denke ich noch, da pfeift der Schiri Freistoß für die Guten, 20 Meter vor dem Tor. Eine Wand aus ca. 25 Berlinern steht direkt vor dem Ball.
„Die Mauer muss weg!“ grantelt ein Ü60er mit zerfurchtem Gesicht. „Ich angle, also bin ich (Horst Hrubesch)“ steht auf seinem Shirt. Was sagst du, Auge? Der grunzt nur: Die Fragen stelle ich, die Antworten gebe ich auch.
Aus dem Nichts fällt ein Tor für die Berliner. Ich könnte das Billig-Bier erbrechen.
„Ich bin ein Berliner!“ brüllt ein grinsender Schlipsträger. Halt die Klappe, Lars, investier dich gefälligst ins Knie!

Halbzeit. Interview mit Bornemann und Hürzeler. Wie kann das denn sein?“ wundere ich mich. Haben sie ihn jetzt gefeuert, weil ein paar Fans ungeduldig nicht mehr auf die Vertragsverlängerung warten wollen?
„Wohin du auch gehst, geh mit deinem ganzen Herzen,“ sagt Bornemann und klopft dem Trainer auf die Schulter. Der antwortet ihm: „Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht.“ So so! Ein baumlanger Typ vor mir muss niesen. „Gesundheit!“ wünsche ich. Eric Smith dreht sich um:
„Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts,“ nickt er zustimmend. Ach Shit!

Kurz nach Wiederanpfiff treffen die Berliner zum 0:2. Kagge!!
„Mal verliert man und mal gewinnen die anderen“, nuschelt ein Greis. Danke, Honecker, du Klugschelßerchen! Hauptsache, wir bleiben vor dem V! „HSV?“ Was macht denn DER Typ hier?
„HSV? Veni. Vidi. Vici“ Was stimmt denn nicht mit dir, Tim! Ach, ich weiß schon, lass‘ gut sein! „Häh?“ fragt ein junger Typ. Nein, nicht du, ich mein den Walter!
„Achso! Das Spiel wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Doziert der junge Kerl. Schreib das mal morgen im Millernton, denke ich!
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel! Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ Den Typen kenn ich nicht. Der hat ne DK, lebenslang! flüstert Tim. Ach DER ist das?
„So ist Fußball. Manchmal gewinnt der Bessere“, schimpft ein Typ in eigenartig altertümlichen Klamotten. Wer ist das denn? Das ist Arminius, raunt Tim. Der alte Cherusker bekommt gerade vom Koch Bier und Eierkuchen serviert. Danke Olli!
Da tönt es aus der ganz rechten Ecke: „Wer einen Nazi sieht, muss ihn boxen!“ Der Koch steht auf, "Ganz wie es beliebt Höcke, ihr seid doch die Herrenrasse!", zieht dem Björn einen zweiten Scheitel und grinst:
„Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft – vielmehr aus unbeugsamen Willen.“

„Fußball ist die geilste Nebensache der Welt, wenn man gewinnt. Wenn man verliert ist es eine scheiß Zeitverschwendung!“ sagt ein Typ mit weißen Haaren und steht auf. Wenn Goethe geht, geh ich auch.
Wir zahlen. Vor der Tür sagt er noch zu mir: „Heute ist nicht alle Tage! Ich komm wieder, keine Frage!“ Was für ein Dichter, denke ich, während ich durch die Gassen schlendere.
Da höre ich eine Frau durch ein offenes Fenster rufen: „Los jetzt Walter und Franz! Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ „Ja, Mama!“

Irgendwie lustig hier, denke ich noch, ich komme wieder, dann verschwindet die Straße zunehmend im Nebel. Ich wache auf. War offenbar beim Hören einer CD eingeschlafen. Was träume ich vor Spielen nur immer für einen Sch...!
Ich torkle schlaftrunken ins Bad, spüle kaltes Wasser über mein Gesicht und schaue in den Spiegel. Da höre ich aus dem Off: „Es gibt keinen bequemen Weg, der von der Erde zu den Sternen führt.“ Bruce Willis, bist du’s?

Fertig machen für’s Spiel! Heute muss Hertha die Quittung für Schalke bekommen! „Jetzt liegt die Wahrheit auf dem Platz!“ (Robert Hoyzer)

Nicht schlafen, nicht träumen!

Auf geht’s, ihr Jungs in Braun!
Dieser Beitrag wurde zuletzt von geestler am 04.03.2024 um 11:51 Uhr bearbeitet